Im Spätherbst 1923 erschien in der Zeitung Brixener Chronik unterm Strich die leicht satirische Schilderung einer herbstlichen Wanderung von Brixen nach Neustift. Lesen Sie selbst von den Erfahrungen des Verfassers mit dem Straßenpflaster, dem Kastanienregen und weshalb er das achte Weltwunder nicht am Wunderbrunnen im Innenhof des Stiftes – einem Ziehbrunnen aus dem Jahr 1508, dessen achteckiger Aufbau im 17. Jahrhundert mit den sieben Weltwundern und Neustift als achtem verziert wurde – sondern beim Brückenwirt fand.

 

Wenn man nach Neustift geht
oder: Das achte Weltwunder.

Von Brixen nach Neustift ist es eine halbe Stunde, wenn – ja, wenn der Brückenwirt nicht wär’ und wenn – – –

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Der Wunderbrunnen im Klosterinnenhof

Hört nur! Schon damals, als ich noch ein Zimmer im 3. Stock – die Berliner sagen dafür schöner und großartiger „Etage“ (Anmerkung der Redaktion für die Berliner Leser der „Brixener Chronik“) – bewohnte und zum Frühstück, Mittag- und Abendessen Latein- und Griechischbrocken als Zuspeise mit viel Widerwillen hinabwürgen mußte, schwärmte ich für den Koloß von Rhodos, das hölzerne Roß von Troja und ähnliche Wunderdinge weit mehr als etwa für die Professoren oder gar den Calamaio (Ehrentitel des Schulkommissärs, nur in Kulturstaaten gebräuchlich). Mit zunehmendem Alter wuchs auch die Vorliebe für Wunderwerke und die trieb mich schließlich mit unwiderstehlicher Gewalt nach Brixen, dem Wunderzentrum des Landes. Ich bestaunte den mit Brettern vernagelte Kreuzgang, den Dom und die Pfarre und den neuen Geißstall, der sich äußerst passend und geschmackvoll zwischen beiden Hauptkirchen einschiebt, die tannenführende Wiere, die elektirschen Drähte, die den Parteien fast ganz gratis den Strom in die Wohnungen leiten, und insbesondere die Zahnradbahn auf die Plose, die trotz des langjährigen Bestandes (in der Phantasie) noch nicht merklich abgenützt ist. Zuletzt wollte ich mir noch einen der weltbekannten Stammtische der Stadt in allernächster Nähe betrachten, erfuhr dort sämtliche Neuigkeiten des laufenden Tages und auch der drei nächstfolgenden Tage, worauf ich befriedigt von dannen stapfte mit dem tröstlichen Bewußtsein, daß hier für vulkanische Ausbrüche absolut keine unmittelbare Gefahr vorliege. Draußen auf der Straße begegnete ich zufällig einem Bekannten, der mir im Verlauf des Gespräches sagte, daß ich in Neustift die 7 Weltwunder, ja sogar 8 sehen könnte, hübsch beisammen auf einem Brunnen, in farbenprächtiger Ausführung. Ich solle mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen und den Gang nach Neustift ja beileibe nicht versäumen.

Meine schönheitsdurftige Seele war natürlich für die freundliche Aufklärung herzlich dankbar und ich beschloß sofort, die 7 oder 8 Weltwunder von Neustift auzusuchen.

Ich schritt zunächst tüchtig aus. Die Straße war innerhalb der Stadt frisch bespritzt, obwohl es gestern den ganzen Tag geregnet hatte. Glücklicherweise erinnerte ich mich noch rechtzeitig, daß die allzeit besorgten Stadtväter dadurch einerseits dem darniederliegenden Schuhputzergewerbe aufhelfen, andererseits aber auch das Brixener Straßenpflastern elastisch und mit Sitz- und Liegegelegenheit ausstatten wollen. (Mögen die Bemühungen von Erfolg gekrönt sein!)

Das Straßenpflaster lag glücklich hinter mir. Die schöne Kastanienallee leuchtete in den herrlichsten Farben des Herbstes; hundert Sonnenlichter fielen durch das bunte Blätterdach und entzündeten meine lyrischen Adern zu einem Herbstgedicht. Ich zog das Notizbuch heraus, nahm den Bleistift und – – pitsch, patsch flatscht es auf meinen Kopf. Ich hatte nämlich in meiner Begeisterung nicht gesehen, daß ein paar Buben gerade die wilden Kastanien herunterschüttelten. Um mich und meinen Kopf vor weiteren Tätlichkeiten zu schützen, spannte ich den Regenschirm auf, den ich zum Glück einmal nicht vergessen hatte.

Ich kam nun nach Zinggen. Vor dem Druckereigebäude der Tyrolia blieb ich ehrfürchtig stehen und betete ein Vaterunser für die „Brixener Chronik“, d. h. eigentlich für den armen Redakteur, damit er in Zukunft meine Geistesprodukte, Gedichte und Geschichten, besser begreifen und verstehen möge, als es bis dato der Fall gewesen.

Und weiter ging es. Die Straße flimmerte, die Herbstsonne brannte heiß. Bei Klugs Lodenfabrik flüsterte mir der Teufel ein, mir einen Wettermantel zu kaufen, da es auf dem Rückweg regnen könnte und ich den meinen vergessen hatte. Doch bestand ich die Versuchung erfolgreich, als ich die Summe überzählte, die ein Wettermantel kosten dürfte.

Ich schritt nur mehr ganz langsam weiter. Die Füße waren müde geworden. Der Kopf schmerzte vor Sehnsucht, die 7 oder 8 Weltwunder zu sehen. In der Gegend, wo ehemals die „Drei Spitzbuben“ standen, las ich andächtig den Meilenstein, der wie ein Handwerksbursche dasteht und die Pustertalerstraße von der Brennerstraße scheidet. Dann schritt ich auf der Pustertalerstraße weiter, überbrückte den reißenden Fluß, der wie ein unbändiger Bube von Schalders heraustobt, und kam Neustift immer nächer.

Aber je näher ich dem Endziel kam, umso schwerer wurde der Schritt. Die lyrische Begeisterung der Kastanienallee verflog und selbst mein Schönheitsdurst, der mich getrieben hatte, die acht Weltwunder zu sehen, schlief ein. Ich torkelte matt wie ein zerbrochener Wagen zur Neustifterbrücke.

Und als ich sie überschritten hatte, ereilte mich das Verhängnis.

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Der Brückenwirt auf einer Postkarte aus dem Jahr 1918

Ich wollte nur den Brückenwirt fragen, wo die 8 Weltwunder seien; das mußte ich doch, ich war ja in Neustift fremd – ganz gewiß wollte ich nichts anderes. Aber wenn man einen Wirt frägt, muß man auch etwas trinken und wenn man etwas trinkt, muß man mehr trinken und wenn man mehr trinkt…

Fragt nicht weiter. Als ich vom Brückenwirt herauskam, sah ich am Himmel die Sterne in wundervollen Wirbel durcheinandertanzen und in meinen Ohren lag mir noch die monotone Melodie vom Lied, das die Kellnerin soeben beim zahlen gesungen: 2 Schweizerkäse, 3 Brot und 9 Viertel Montiggler. Wie ich nach Brixen gelangte, weiß ich nicht. Feststeht nur das eine, daß ich am andern Tag erst gegen 10 Uhr vormittags erwachte. Bis 11 Uhr hatte ich dann mein Denkvermögen schon wieder zurückerobert und da kam es mir zum Bewußtsein, daß ich über dem achten Weltwunder beim Brückenwirt in Neustift – auf die anderen sieben ganz vergessen hatte – –

 

Quelle: Brixener Chronik (36. Jg.), Nr. 15 vom 27.10.1923, S. 1f.